Ihr seid das Licht der Welt

Katechese
KARDINAL MEISNER, 
ERZBISCHOF VON KÖLN, 
BEIM WELTJUGENDTAG IN TORONTO

Mittwoch, 24. Juli 2002

 

Liebe junge Christen! 

1. Es gibt keinen Menschen auf Gottes weiter Erde, der so viele junge Menschen auf die Beine bringt wie unser Heiliger Vater Papst Johannes Paul II. Auch wenn er am Stock geht und gestützt werden muß, sein Herz ist von einer Weite, Offenheit und Jugendlichkeit, daß sich jeder von uns, ob alt oder jung, ob klein oder groß, ob schwarz oder weiß, von ihm verstanden, akzeptiert und angenommen weiß. Weil das so ist, erfahren wir uns aber auch untereinander als Schwestern und Brüder, als Menschen, die zusammengehören und durch Taufe und Firmung miteinander verwandt sind. Das schönste Geschenk von Toronto besteht darin, daß wir dem Heiligen Vater begegnen und daß wir einander begegnen. 

Das schönste Geschenk, das ihr für andere nach Toronto mitgebracht habt, ist, daß ihr euch selbst hierhergebracht habt. Denn der Christus im anderen ist immer gewisser als der Christus in mir selbst. Ich brauche den anderen für meine eigene Christusvergewisserung. Oder anders gesagt: Das Wort, das mir helfen kann, kann ich mir nie selbst sagen, es muß mir immer von einem anderen gesagt werden. Darum ist das Wort Christi, das in uns lebt, nicht nur für uns da, sondern ganz besonders für den anderen. Daher schulde ich ihm das Wort Christi und muß es ihm zusprechen. Wir begegnen uns hier in Toronto als Schwestern und Brüder, die das Wort des Heiles für den anderen in sich tragen. Und darum sollten wir uns immer mit der unausgesprochenen Bitte auf den Lippen begegnen: »Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« Also: Dein Glaube ist nicht dein Glaube, dein Glaube ist mein Glaube, und mein Glaube ist nicht mein Glaube, mein Glaube ist dein Glaube. Den wollen wir uns in diesen Tagen und in dieser Stunde jetzt zusprechen, zuhandeln und zubeten. 

2. Die Kirche hat nichts aus sich selbst und nichts für sich selbst. Alles, was sie hat, hat sie von Jesus Christus und hat sie für die Menschen. Das wollen die beiden biblischen Bildworte von uns als Gliedern der Kirche aussagen: »Ihr seid das Salz der Erde …«, und »Ihr seid das Licht der Welt.« Salz hat keinen Sinn für sich selbst, sondern Salz wird nur sinnvoll, wenn es in die Weltsuppe hineingerührt wird, um dem Ganzen Würze zu geben und damit Geschmack und zum Appetit anzuregen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir gerade als junge Christen haben. Wir müssen anderen Geschmack an Gott machen. Sie müssen eigentlich durch unser Leben selbst Appetit auf Gott bekommen. Und wer einmal Gott gekostet hat, der kommt nicht mehr von ihm los. Denn Gott schmeckt immer nach mehr. Wer Gott gekostet hat, der verliert alle Geschmacklosigkeit, alle Appetitlosigkeit, alle Abgeschmacktheit an Gott. Der hat immer Appetit auf Gott und kann an Gott gar nicht satt werden. 

Gott ist wirklich unser Lebenselement. »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17, 18). »Kostet und seht, wie gut der Herr ist«, ruft uns der Priester bei der heiligen Messe vor dem Kommunionempfang zu. Darum geht es in diesen Tagen in Toronto: Gott zu schmecken, an seiner Welt Geschmack zu finden, dem Leben der Mitmenschen Würze zu geben und ihnen Appetit auf Gott zu machen. 

Das Lichtwort erinnert uns daran, anderen zu leuchten, sonst hätte es überhaupt keinen Sinn. »So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen« (Mt 5, 16), sagt Christus. Unser Leben soll ein solches Licht für die anderen sein, damit es ihre Herzen erleuchtet und ihre Augen für Gott öffnet. Diese Leuchtmöglichkeit unseres Lebens ist nichts anderes als unser Beispiel. Das Beispiel, das wir geben, hat eine gewaltige Verantwortung, viel größer als die des Wortes. Das Wort kann man annehmen oder ablehnen, hören wollen oder nicht. Wir alle haben schon erlebt, wenn wir irgend jemandem einmal gut zugeredet haben, unsere besten Kräfte dabei einsetzten und der andere dann vielleicht trotzdem noch hartnäckiger geworden ist. Wenn man auf jemanden einredet, dann kann so leicht die Trotzreaktion kommen: »Nun erst recht nicht!« 

Ganz anders ist die Wirkung des Beispiels. Sie ist viel feiner, stiller und tiefer. Ohne daß man es merkt, wirkt es auf die Seele des anderen ein. Ohne daß wir es selber merken, empfangen wir die Eindrücke vom Beispiel des anderen. Wir müssen es nur einmal in den Kleinigkeiten des täglichen Lebens beobachten. Wenn wir viel mit jemandem zusammen sind, so dauert es gar nicht lange, dann haben wir seine Art des Sprechens, seine Art sich zu geben, seine Art zu denken angenommen. Wie nimmt doch der Mensch so gern die guten Züge des anderen an, und nach Jahren erst kommt es einem selbst zum Bewußtsein: Ja, das habe ich von dem und das habe ich von jenem angenommen. Und weil das so ist, hat das Beispiel eine ganz unheimliche Gewalt, denn es wirkt, ob du willst oder nicht. Du bist kein schlechter Mensch, willst auch kein schlechter Mensch sein; glaube mir, läßt du dich einmal gehen, und es wird von einem anderen bemerkt, dann wirkt das in seiner Seele nach, ob du willst oder nicht, vielleicht Jahre lang. 

Dieses Apostolat des Beispiels mußt du üben, ob du willst oder nicht, wie etwa der Priester sein Priestertum. Selbst wenn er abfällt, bleibt doch das unauslöschliche Merkmal seiner Weihe. Du kannst tun, was du willst, du bist ein Priester und gibst Beispiel, ein gutes oder ein schlechtes, je nachdem, wie du handelst. Du mußt Licht sein, oder du bist Finsternis. Wenn du über die Straße gehst und von anderen gesehen wirst, wirkt das auf die anderen, ob du willst oder nicht. 

Diese Wirkung auf die anderen, Beispiel genannt, meint das Wort: »Ihr seid das Licht der Welt.« Das Licht muß immer leuchten, ob es will oder nicht. Es darf nur kein Irrlicht sein, das auf die Holzwege lockt, sondern das helle Licht, das uns auf die Wege Gottes führt. Abschließend können wir also sagen:Christ ist man immer für andere, so wie es den Menschen nie ohne den Mitmenschen gibt, so gibt es auch den Christen nie ohne den Mitchristen. Alles, was du hast, hast du von einem anderen und für andere, wie die Kirche. Du bist Salz, und du bist Licht. 

Diese Gegebenheit macht uns die Apostelgeschichte deutlich im 8. Kapitel 26. bis 40. Vers: »Die Taufe des Äthiopiers: Ein Engel des Herrn sagte zu Philippus: Steh auf und zieh nach Süden auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt. Sie führt durch eine einsame Gegend. Und er brach auf. Nun war da ein Äthiopier, ein Kämmerer, Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, der ihren ganzen Schatz verwaltete. Dieser war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten, und fuhr jetzt heimwärts. Er saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. Und der Geist sagte zu Philippus: Geh und folge diesem Wagen. Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da sagte er: Verstehst du auch, was du liest? Jener antwortete: Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet? Und er bat den Philippus, einzusteigen und neben ihm Platz zu nehmen. Der Abschnitt der Schrift, den er las, lautete: ›Wie ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt; und wie ein Lamm, das verstummt, wenn man es schert, so tat er seinen Mund nicht auf. In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben. Seine Nachkommen, wer kann sie zählen?  Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen.‹ Der Kämmerer wandte sich an Philippus und sagte: Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet das? Von sich selbst oder von einem anderen? Da begann Philippus zu reden, und ausgehend von diesem Schriftwort, verkündete er ihm das Evangelium von Jesus. Als sie nun weiterzogen, kamen sie zu einer Wasserstelle. Da sagte der Kämmerer: Hier ist Wasser. Was steht meiner Taufe noch im Weg? Da sagte Philippus zu ihm: Wenn du aus ganzem Herzen glaubst, ist es möglich. Er antwortete: Ich glaube, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Er ließ den Wagen halten, und beide, Philippus und der Kämmerer, stiegen in das Wasser hinab, und er taufte ihn. Als sie aber aus dem Wasser stiegen, entführte der Geist des Herrn den Philippus. Der Kämmerer sah ihn nicht mehr, und er zog voll Freude weiter. Den Philippus aber sah man in Aschdod wieder. Und er wanderte durch alle Städte und verkündete das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam.« 

3. Der Heilige Geist macht den Menschen Beine. Darum ist es nicht von ungefähr, daß die erste Bezeichnung für Christen im Neuen Testament heißt: »Anhänger des neuen Weges« (Apg 9, 2). Wege müssen gegangen werden. Darum sind unsere Füße die einzigen Körperteile, die eine christliche Bezeichnung erhalten haben: pedes apostolorum – apostolische Füße. Die Heilige Schrift kennt keine sitzende Kirche, sondern nur eine Geh-hin-Kirche. In unserer Erzählung drückt sich das Lebensgefühl und die Erfahrung einer Kirche im Vormarsch aus, die ihren Glauben ohne Scheu zu bezeugen wußte, die sich vom Ruf Gottes erfaßt und geleitet fühlte und der es gelang, einflußreiche und mächtige Persönlichkeiten zu gewinnen und über sie ganze Gruppen von weniger einflußreichen zu Jesus Christus zu führen. 

Hier trifft uns – meine ich – das Schriftwort bis ins Herz. Wir fühlen uns mit unserem Glauben heute in die Verteidigung gedrängt, ja zum Rückzug verurteilt. Uns drängt es eigentlich nicht mehr, unsere Zeitgenossen zu fragen: »Versteht ihr eigentlich, was ihr da mit eurem Leben macht und tut?« Wir sind eher froh, wenn uns keiner mehr fragt, was wir mit unserem Leben anstellen. Die jüngere Generation – so sagt man, also ihr – hat eine Art, nach dem Tun und Lassen der Älteren zu fragen, nach den Begründungen ihres Denkens und Handelns, die die Älteren oft in Furcht versetzt. Ihre Verlegenheit versuchen sie damit zu überspielen, daß sie sich den Jüngeren gegenüber auf die größere Lebenserfahrung berufen und etwa sagen: »Das könnt ihr jetzt noch gar nicht verstehen, ihr seid noch viel zu jung dazu.« Aber in Sachen Glauben, Leben und Lieben gibt es keine verantwortungsfreie Zeit der Probe, hier ist immer gleich Ernstfall, ob ich 1, 20 oder 30 Jahre alt bin. Und darum haben auch gerade junge Leute etwas Wichtiges zu sagen im Hinblick auf den Glauben. Der Papst jedenfalls nimmt das Glaubenszeugnis junger Menschen so ernst, daß er alle zwei Jahre Jugendliche aus aller Welt zum Welttreffen der Jugend einlädt. 

4. Wir tun sicher gut daran, diesen großen Unterschied zwischen der apostolischen Zeit damals und heute nicht einfach zuzudecken oder ihn zu überspielen, als wäre alles noch so wie damals. Aber wir täten auch nicht gut daran, zu lamentieren und zu meinen, solche Zeichen eines Erwachens im Glauben, eines neuen Pfingstens, eines geistlichen Aufbruchs wären vorüber. Wir sollten lieber in aller Hochherzigkeit und inneren Bereitschaft die Wahrheit dieses Glaubenszeugnisses der Heiligen Schrift an unser Herz heranlassen und prüfen, ob sie uns nicht doch etwas Wesentliches zu sagen hat. 

Es sieht so aus, als ob unsere Zeitgenossen heute an religiösen Fragen überhaupt nicht mehr interessiert seien. Die Diesseitigkeit scheint den Menschen so gefangengenommen zu haben, daß er für alles, was darüber hinaus geht, keinen Sensus mehr hat. Aber ist das wirklich so, daß die Mehrheit der Menschen heute von Glaubensfragen nicht mehr berührt wird und die Frage des Philippus: »Verstehst du auch, womit du da beschäftigt bist?« überflüssig geworden wäre?

Als der schreckliche Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt stattfand, dem fast 20 junge Menschen zum Opfer gefallen sind, da liefen die Menschen nicht fassungslos in die Bars oder in die Discos, sondern sie rüttelten an den verschlossenen Türen der Kirchen, als wollten sie sagen: »Macht uns auf, wir bekommen nirgendwo eine Auskunft über das unbegreifliche Geschehen als vielleicht noch in der Kirche.« Und so haben Tausende von Erfurtern, junge und alte, tagelang die Kirchen belagert, haben Kerzen angezündet und Blumen niedergelegt und in die Stille der Kirche hineingelauscht, um eine Antwort zu bekommen auf das unbegreifliche Geschehen, das in der Schule passiert ist. 

5. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß sich auch im alltäglichen Leben sehr viele Menschen mit Fragen herumschlagen, von denen sie gar nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen, daß es letztlich religiöse Fragen sind, Fragen nach Gott. 

Indem wir so etwas erfahren und ahnen, empfangen wir einen solchen Anruf des Geistes Gottes wie Philippus, den der Engel des Herrn auf die Straße nach Gaza schickte. Ich bin davon überzeugt, von zehn Menschen, die wir heute auf den Straßen unserer Städte und Dörfer treffen, sind sechs, sieben oder acht auf dem gleichen Weg wie der äthiopische Regierungsbeamte, nämlich auf dem Rückweg von der Welt Gottes, von der Welt des Glaubens, auf dem Rückzug von der Kirche in ein sogenanntes religionsloses Dasein zurück. Aber sie buchstabieren alle am Sinn ihres Lebens herum, so wie der Äthiopier in seinem Wagen an der Jesaja-Rolle herumbuchstabierte. Er erhielt keine Antwort, weil niemand ihm half, eine solche Antwort zu finden. Sie brauchen jemanden, der an ihre Seite tritt mit der Auskunft eines ganz persönlich gelebten Glaubens. Für viele Menschen wird Jesus Christus ein papierener, gemalter, geschnitzter, gemeißelter Christus in feierlichen Kirchenräumen und Museen bleiben, wenn nicht wir alle ihn auf die Straße der Ratlosen und Enttäuschten bringen, ihm nicht unsere Hände und Füße, unser Gesicht und unsere Stimme leihen, damit er als der heute Lebendige, als der heute die Menschen Verwandelnde reden kann. 

6. Freilich ist das nicht ganz leicht. Aber das Wort der Schrift macht Mut und sagt uns, daß es geht und wie es geht und warum es geht. Es braucht zunächst nicht das totale Engagement eines hauptberuflichen Christentums, um Gottes Anruf gehorsam zu beantworten. Ein kleines Stück Weggenossenschaft mit einem anderen kann schon viel, kann vielleicht alles bedeuten. Wir lassen uns manchmal nicht auf die Probleme eines anderen Menschen ein, weil wir meinen, sie für ihn lösen zu müssen. Vielleicht genügt es schon, wenn wir ihm nur ein wenig zuhören, ein wenig mitdenken, oder es reicht schon die Wohltat, daß sich einer in seine Lage hineinversetzt, sozusagen in seinen Lebenswagen mit hineinsteigt und seine Fragen ernst nimmt, das heißt dort anfängt mitzudenken und mitzufahren, wo der andere steht oder sitzt. 

7. Unsere Antwort muß auch nicht ganz vollständig sein. Wir wissen gar nicht, wie lange Philippus mit dem Äthiopier unterwegs war, aber ich glaube kaum, daß er eine vollständige Theologie an den Mann bringen konnte, selbst wenn er sie gehabt hätte. Zeugenschaft für Jesus Christus braucht nicht zuerst eine hoch gerüstete Christologie, sondern zuerst etwas viel Wichtigeres: Sie braucht immer einen Deckungspunkt im eigenen Leben, und sei es nur ein einziger ganz kleiner Deckungspunkt. Kinder z.B. brauchen gar nicht einen theologisch hoch gebildeten Vater. Aber wenn er ihnen auch nur an einer einzigen Stelle einmal klar machen kann, warum sein ruhiges und freundliches Verhalten gegenüber einem aufgeregt schimpfenden Nachbarn etwas mit seinem Glauben an Jesus Christus zu tun hat, warum der Blick auf Jesus Christus ihm kein anderes Benehmen erlaubt, so werden sie das ganz sicher nicht vergessen. In diesem Sinne muß es im Leben eines Christen immer etwas geben, das es nur deshalb gibt, weil es Jesus Christus gibt. 

Als Bischof von Berlin ist mir das einmal sehr deutlich vor Augen gestellt worden. Ich hörte, daß eine Familie eine schwer nervenkranke Verwandte bei sich aufgenommen hatte, sodaß die Frau und Mutter nicht mehr mitarbeiten konnte, was in der früheren DDR lebensnotwendig war. Als ich das hörte, steckte ich mir Geld in die Tasche und wollte dort das Familienbudget etwas auffrischen. Als ich damit ankam, sagte mir die tapfere Frau: »Herr Kardinal, behalten sie Ihr Geld. Das tue ich nur deshalb, weil es Jesus Christus gibt. Das kann man gar nicht mit Geld bezahlen!« Ein kurzes, alle großen Worte vermeidendes Gespräch darüber, wie wir mit Jesus Christus im Alltag leben, wird viele theoretische Erörterungen aufwiegen. Denn überall, wo die Person Jesu Christi mit einem Wort oder einer stillen, selbstverständlich vollbrachten Tat im wirklichen und alltäglichen Leben zum Stehen kommt, da steht sie ganz und gar und beginnt ihr mächtiges Eigenleben zu leben. Diese kleine Münze alltäglicher Vergegenwärtigung ohne großes Tamtam wird zu dem Licht, das die Menschen erleuchtet, und wird zu dem Salz, das den Menschen Geschmack an Gott schenkt. Und ich sage es noch einmal: Dieser Gott schmeckt immer nach mehr. 

8. Daß Gott ist, steht für uns Christen außer Frage. Aber diese Erkenntnis genügt nicht. Der Christ ist von seiner Berufung her Zeuge und nicht Theoretiker. Mit einem theoretischen Glauben ist nichts auszurichten, und gegen eine rein theologische Christlichkeit sind die Heiligen energisch zu Felde gezogen. Das Wirken des Heiligen Geistes ist darauf gerichtet, daß das Himmlische die Seele des Irdischen wird, das Ewige die Seele des Zeitlichen. Das Evangelium ist nicht eine Konserve, sondern Sauerteig, der in das alltägliche Leben eingebracht werden muß. Es ist die Prise Salz, die man nicht neben die Suppenschüssel stellt, sondern in die Suppe hineinstreuen muß, damit sie schmackhaft wird. Eine Religion, die nur aus klugen Reden und Kritisieren besteht, ist ein hohles und leeres Gespenst. Saint-Exupéry schreibt: »Man kann nicht leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es einfach nicht.« »Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts« (Joh 6, 63), sagt der Herr. Die Welt braucht ein herzhaftes Christentum, das eine innere Kraft hat, die aus dem vereisten Boden gesellschaftlicher Wirklichkeit Keime des Lebens hervorbringt. Glaube und Leben bilden eine unzertrennbare Einheit. Der Trennung von beiden stellen wir ein eindeutiges Nein entgegen. Dazu sind wir in Dienst genommen. Es ist nicht fair, den Zustand der Welt zu beklagen, denn nicht die Welt hat den Geist Gottes empfangen, sondern wir haben ihn für die Welt empfangen. 

9. Das Christentum ist noch nie weitergegeben worden durch Propaganda oder Reklame, sondern immer nur gleichsam durch Ansteckung. Hier möchte ich als Ergänzung noch einmal zwei wichtige Bilder anführen und die beiden Bildaussagen vom »Salz der Erde« und »Vom Licht der Welt« ergänzen. Das eine Bild ist der Physik entnommen: Wer mit radioaktiver Materie in Berührung kommt, der wird selbst radioaktiv angesteckt. Und wer dann mit einem Radioaktiven in Kontakt kommt, der wird dann seinerseits radioaktiv belastet und angesteckt. Jetzt wenden wir dieses Bild ins Positive: Wer mit Jesus Christus in Berührung kommt, wird christoaktiv. Und wer dann mit einem solchen Christoaktiven in Kontakt kommt, der wird seinerseits christoaktiv. Wir brauchen in der Welt solche christoaktiven Menschen nicht um unsertwillen, sondern um der Menschen Willen, damit sie den Sinn ihres Daseins begreifen. Das Weltjugendtreffen in Toronto hat den Sinn, daß wir als Weltjugend hier christoaktiv werden und dann mit unserer Christoaktivität junge Menschen in aller Welt damit anstecken. 

Oder nehmen wir ein anderes Bild: Die Menschen drängten sich um die Person Jesu, um mit ihm in körperlichen Kontakt zu kommen, weil von ihm eine Kraft ausging, die alle heilte. Und wenn es nur der Saum seines Gewandes von hinten war, die Berührung machte sie heil (vgl. Mt 14, 38). Nach der Erhöhung des Herrn gehen die Apostel zum Gebetsgottesdienst in den Tempel von Jerusalem, die Bewohner der Stadt legen ihre Kranken an die Straßen, die zum Tempel führen, damit wenigstens der Schatten der Apostel sie berühre, denn es ging von ihrem Schatten eine Kraft aus, die alle heilte (vgl. Apg 5, 15). Wir sind ermächtigt und begnadet, für andere solche heilenden Schattenspender zu sein:für unsere Familien, für unsere Nachbarschaft, für unsere Gemeinde, für unsere Freunde, für unsere Schulklasse, für unseren Verband, vielleicht für arme und kranke Menschen. 

Der Christ ist nicht ein armer Habenichts, sondern er ist beschenkt, um andere zu beschenken. Der Apostel Paulus sagt: In ihm sind wir in allem reich geworden (vgl. 1 Kor 1, 5). Darum vergeßt nicht: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt. Alles, was wir haben, haben wir von einem anderen: von Jesus Christus, und alles, was wir haben, haben wir für andere: für die Menschen. Salz gehört in die Weltsuppe, damit es ihr die nötige Würze, den nötigen Geschmack verleiht. Das Licht gehört auf den Leuchter, damit es allen leuchte und niemand in der Finsternis umkomme, so wie es in einem Kanon heißt: 
In der Welt ist’s dunkel, 
leuchten müssen wir, 
du in deiner Ecke, 
ich in meiner hier! 

Amen. 

Joachim Kardinal Meisner 
Erzbischof von Köln